Finnlands moderne Architektur ist international vor allem durch einen Namen bekannt: Alvar Aalto. Der finnische Architekt, zu dessen Meisterwerken nicht nur die große Kongresshalle, das Finlandia-talo in Helsinki an der Töölö-Bucht, oder das Rathaus von Säynätsalo (1952) bei Jyväskylä zählen, ist weit über die Grenzen Finnlands hinweg für seine fennisierte Form des Funktionalismus bekannt. In den 1950er-Jahren wandte sich Aalto vom internationalen Modernismus ab. Markenzeichen seiner Architektur sind seine Nähe zur Natur und die Eigenschaft, dass sich seine Gebäude perfekt in die Umgebung einfügen, vor allem durch die Nutzung von Naturmaterialien wie Holz und Stein. Dies war auch der Ansatz der Arbeit von Reima Pietilä, der letztendlich mit seinen Bauwerken den Begriff der finnischen „Naturarchitektur“ prägte. Doch wer war Reima Pietilä? Was kennzeichnet seinen naturnahen Architekturstil? Und wie kam es dazu, dass er trotz nationaler und internationaler Auszeichnungen häufig in Alvar Aaltos Schatten stand?
Das Buch „Visions of architecture“ (2019): Eine Ode an Finnlands Naturarchitekten Reima Pietilä – Interview mit Autorin und Architektin Kaisa Broner-Bauer
Mit dieser Frage hat sich die finnische Architektin Kaisa Broner-Bauer in ihrem Buch „Visions of architecture – Reima Pietilä and the meanings of form / Arkkitehtuurin Visiot – Reima Pietilä ja muodon merkitykset“ auseinandergesetzt, das 2019 erschien. „Mich haben Pietiläs Arbeiten immer fasziniert, denn er hat wirklich tolle Gebäude entworfen. Deshalb finde ich es schade, dass seinen Werken bis heute international noch immer nicht die Aufmerksamkeit geschenkt wird, die sie verdienen“, so die finnische Architektin.
„Pietilä war zudem nicht nur Architekt und Künstler, sondern hat sich auch viel mit Architekturtheorie beschäftigt“, erklärt Broner-Bauer. Im Gegensatz zu Alvar Aalto, für den die Theorie stets eine untergeordnete Rolle gespielt habe, stecke hinter jedem von Pietiläs entworfenen Gebäuden eine komplexe Architekturtheorie. „Über diese Theorien verfasste Pietilä auch zahlreiche Publikationen, zum Beispiel 1958 für die von ihm und anderen befreundeten Architekten, wie Aulis Bloomstedt, gegründete Fachzeitschrift „Le Carré Bleu“.
Für all seine Entwürfe ließ sich Pietilä durch die finno-ugrische Sprache und die finnische Literatur, zum Beispiel das Kalevala (Finnlands Nationalepos), sowie allgemein von der skandinavischen Mythologie, aber auch durch die Philosophie und die geografischen Gegebenheiten des Ortes, die Natur und das Licht inspirieren. Mehr über Pietiläs Arbeit, seine Visionen, seine Arbeitsmethoden und Formsprache sowie seine Verbindung zu Architektur, Kultur, Philosophie und Natur beleuchtet Kaisa Broner-Bauers Buch. Es besteht aus einem Interview, das die finnische Architektin im Januar 1987 mit Pietilä führte sowie einem inspirierenden eigenen Essay über Pietiläs Leben und Schaffen als Architekt.
Reima Pietilä – Finnischer Architekt, Philosoph und Visionär
Reima Pietilä wird 1923 in Turku geboren, wo er auch die Schule besuchte. Zu seinen engsten Schulfreunden zähle Mauno Koivisto, der spätere Präsident Finnlands. Pietiläs ältere Schwester war die finnische Grafikerin Tuulikki Pietilä. Sie war die langjährige Lebensgefährtin von Tove Jansson, der Erfinderin der Muumins. Von Tove Jansson bekamen Reima und Raili Pietilä 1962 den Auftrag, ihr Atelier in Helsinki neu zu gestalten und zu modernisieren.
Reima Pietilä selbst liebte Sprachen und die Linguistik und hatte stets ein etymologisches Wörterbuch griffbereit. Seine Eltern, die in Amerika gelebt hatten, erzogen ihren Sohn zweisprachig in Finnisch und Englisch. Aus Interesse an Sprachen lernte Pietilä auch Schwedisch und Deutsch. Mit 15 Jahren besuchte Pietilä aus Faszination an der finno-ugrischen Sprache eine Vorlesung an der Universität von Turku des finnischen Sprachwissenschaftlers und späteren Direktors der Universität von Helsinki, Paavo Ravila, den er ebenso bewunderte wie den Philosophen Ludwig Wittgenstein.
Zu diesem Zeitpunkt schwebte dem jungen Pietilä vor, Philosoph zu werden. Aber auch der finnische Maler Akseli Gallén-Kallela, der für seine Illustrationen zum finnischen Nationalepos Kalevala bekannt wurde und einer der bedeutendsten Vertreter der Nationalromantik ist, gehörte zu seinen Vorbildern. Letztendlich entschied sich Pietilä jedoch nicht für die Philosophie, sondern begann ein Studium der Architektur an der Technischen Universität von Helsinki (heute: Aalto Universität), das er 1953 erfolgreich abschloss. Doch auch die Linguistik, die Philosophie und die Ethnologie zählten weiterhin zu seiner Leidenschaft.
Reima und seine Frau Raili Pietilä begannen ihre gemeinsame Arbeit 1960 mit ihrem Architekturbüro „Reima Pietilä and Raili Paatelainen“ (später Raili and Reima Pietilä Architects). Sie heirateten 1963. Ihre Tochter, Annukka Pietilä, ist ebenfalls Architektin. Pietilä lehrte von 1973–1979 Architektur an der Universität von Oulu und wurde 1982 mit dem finnischen Ehrentitel „Akateemikko“ geehrt, der seit 1948 vom finnischen Präsidenten an Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur für herausragende Leistungen verliehen wird. Im Jahr 2008 widmete das finnische Architekturmuseum in Helsinki Reima und Raili Pietilä eine große rückblickende Ausstellung mit dem Titel „Raili and Reima Pietilä – Challenging Modern Architecture“.
Vom Dipoli bis Mäntyniemi – Die Visionen und Theorien hinter Pietiläs Bauwerken
Pietiläs Karriere begann, nachdem er den Architektur-Wettbewerb für die Gestaltung des finnischen Pavillons für die Weltausstellung 1958 gewann. Dipoli, das Gebäude der Studentenvereinigung der Aalto Universität (früher: Technische Universität Helsinki) auf dem Universitätscampus in Otaniemi/Espoo (1961-1966), zählt zweifelsohne zu seinen bekanntesten Gebäuden. „Bei der Festlegung der Form des Bauwerkes spielte die Natur eine entscheidende Rolle und hier im Speziellen die Bodenbeschaffenheiten“, so Kaisa Broner-Bauer.
„Pietilä hat erzählt, dass er vor Beginn der Planung des Gebäudes so lange kreuz und quer über das dortige Felsplateau des Hügels spazierte sei, bis er durch seine Füße wahrnahm bzw. sich vorstellen konnte, wie sich die Form der dortigen Felsen anfühlte.“ Er habe im Interview mit Broner-Bauer auch von Schamanismus gesprochen, weil er hierbei vor allem seiner Intuition und seinen Visionen gefolgt sei, die ihm beim Laufen über das Felsplateau durch den Kopf schossen.
„Ähnlich war es bei dem Entwurf zur Wohnsiedlung Suvikumpu im Espooer Stadtteil Tapiola“, so Broner-Bauer. „Hier vereinte Pietilä bei der Anordnung der Gebäude typisch finnische Landschaftselemente: Zum einen die natürlich gebildeten Felsformationen und zum anderen den finnischen Mischwald, bestehend aus Birke, Fichte und Kiefer. Pietilä nutzte für den Anstrich der Fassade auch drei unterschiedliche Grüntöne.“ Das Thema des finnischen Waldes prägte auch Pietiläs Entwurf für das Einkaufs- und Erholungszentrum Hervanta in Tampere (1975-1979), wobei Pietilä bei der Form des Gebäudes die Fichte als Metapher auswählte. „Die langen Ziegelfassaden des Gebäudes mit ihren senkrecht angeordneten, dreieckigen Fenstern suggerieren optisch gesehen den Eindruck eines Fichtenwaldes“, so Broner-Bauer.
Auch die Formensprache der Hauptbibliothek von Tampere (1979-1986) greift mehrere Methapern aus Natur und Umgebung auf. Schon der Name ist eine Metapher, denn „Metso“ ist der finnische Name für Auerhahn. Und auch aus der Vogelperspektive erinnert das Gebäude an den Vogel. Die Farben für die Inneneinrichtung hielt Pietilä in Blau, Weiß, Dunkelgrün, Rosa und Lila, in Anlehnung an die Farbpalette einer finnischen Blumenwiese. „Aber auch hier spielten die geologischen Bedingungen des Standortes und die damit im Zusammenhang stehenden Naturkräfte eine entscheidende Rolle“, so Broner-Bauer. „Pietilä reiste für die Findung der Formen und Linien in seiner Vorstellung 7000 bis 8000 Jahre zurück in die Eiszeit, um zu fühlen, wie das Wasser langsam abfloss und der Boden seine jetzige Gestalt annahm.“
Die finnische Botschaft in Neu Delhi: Ein Gebäude mit finnischer Seele
Auch international verzeichnete Pietilä Erfolge. 1963 gewann er den ersten Preis beim Architekturwettbewerb für den Bau der finnischen Botschaft in Neu Delhi in Indien. „Den Bauauftrag für das Gebäude mit dem Titel „Schnee spricht auf Bergen“ erhielt Pietilä allerdings erst im Jahr 1980“, so Broner-Bauer. Das Gebäude selbst habe gemäß Ausschreibung ein „Porträt Finnlands im Ausland“ sein sollen.
Obwohl die Lage des Bauplatzes mitten im internationalen Diplomatenviertel in Neu Delhi von indischen Architekturstilen geprägt war, haben sich Reima und Raili Pietilä nicht verpflichtet gefühlt, sich an der regionalen Architektur zu orientieren. „Sie entschieden, dass das Gebäude eine doppelte Funktion haben sollte: Zum einen eine praktische: So diente das weiße, wellenförmige Dach als Schutz vor Hitze und ließ den heftigen Monsunregen abperlen, auf der anderen Seite war die Form und auch die weiße Farbe eine Metapher für die finnische Winterlandschaft mit dem vom Wind geformten Schnee und damit für die finnische Kultur“, so Broner-Bauer.
Pietilas letztes Bauwerk war der offizielle Amtssitz des Präsidenten “Mäntyniemi“ in Helsinki, der 1993 fertiggestellt wurde. Pietilä schuf also eine neue Form der Architektur, die zeitlos und von der Natur, den Begebenheiten vor Ort und damit von der Seele des Ortes geprägt war.
Über Kaisa Broner-Bauer
Kaisa Broner-Bauer ist Architektin und emeritierte Professorin für Architektur an der Universität von Oulu. Sie lebt derzeit abwechselnd in Deutschland und Finnland und gibt Kurse an der offenen Universität von Helsinki zu den Themen Architekturtheorien und Japanische Architektur. 2019 erschien ihr zweisprachiges Buch Visions of architecture – Reima Pietilä and the meanings of form/ Akkitehtuurin visiot – Reima Pietilä ja muodon merkitykset“ (Oku Publishing, Helsinki), ein illustriertes Werk über die Arbeit und das Wirken des finnischen Naturarchitekten Reima Pietilä.
Das besondere an dem Buch: Es enthält ein mehrstündiges, inspirierendes Gespräch mit Reima Pietilä, das Kaisa Broner-Bauer im Januar 1987 mit dem finnischen Architekten über seine Arbeit führte. Auszüge davon erschienen 1993 in der finnischen Fachzeitschrift Arkkitehti sowie 1995 im spanischen Kulturmagazin Fisuras de la cultura contemporánea. Das Werk würdigt die inspirierende Arbeit des finnischen Naturarchitekten Reima Pietilä, der 1993 verstarb und dem Finnland herausragende Monumente zeitgenössischer Architektur verdankt, wie das Dipoli, das Hauptgebäude der Aalto Universität auf dem Otaniemi-Campus (früher: Technische Universität Helsinki) in Espoo, die Metso-Bibliothek und die Kalevala-Kirche in Tampere oder die Kirche in Lieksa. Auch international hinterließ Pietilä seine Handschrift zum Beispiel in Form der finnischen Botschaft in Neu-Delhi. Mehr über Kaisa Broner-Bauer auch unter www.kaisabroner.fi.
(FOTO: Illustration aus Kaisa Broner-Bauers Buch „Visions of architecture – Reima Pietilä and the meanings of form“) Die Kirche in Lieksa zählt ebenfalls zu Pietiläs architektonischen Meisterwerken.
Dieser Blogbeitrag erscheint parallel auch in der Ausgabe 185 der Deutsch-Finnischen Rundschau. Die Fotos zum Artikel wurden von Kaisa Broner-Bauer und Oku Publishing sowie mit freundlicher Unterstützung des Helsinkier Architektur Museum (Museum of Finnish Architecture, Helsinki) zur Verfügung gestellt.