Anja Degiampietro liebt die Stille und die unberührte Natur Finnisch-Lapplands, Rentiere und Elche. Bereits seit ihrer Kindheit hat sie der Finnlandvirus fest im Griff. Mit 17 Jahren verbrachte sie als Schülerin ein Austauschjahr in Turku. Im Anschluss an ihre Ausbildung als Reisekauffrau, studierte sie Tourismus in Luzern, arbeitete mehrere Wintersaisons als Guide in Lappland zum Beispiel im Snow Village in Lainio in der Gemeinde Kittilä und auch auf einer Rentierfarm. Mit 30 Jahren brach sie schließlich ihre Zelte in der Schweiz ab und wanderte nach Ylläsjärvi in Finnisch-Lappland aus. Auf ihrem Blog „Finnomenal“ berichtet sie seitdem regelmäßig über ihr Auswandererdasein im hohen Norden.
Anja Degiampietro berichtet über ihr Leben in Finnisch-Lappland
Finntastic:
Moikka Anja, schön Dich kennenzulernen. Du stammst aus Wohlen, das liegt im schweizer Kanton Aargau. Jetzt wohnst Du in Ylläsjärvi, also in Finnisch-Lappland. War es schon immer Dein Traum nach Finnland auszuwandern?
Anja:
Die Idee spukte mir tatsächlich schon lange im Kopf herum. Im Grunde seit meiner Kindheit, als ich mit meinen Eltern das erste Mal dort im Urlaub war. Ich war damals dreizehn Jahre alt und wir haben im Sommer zwei Wochen eine Rundreise mit dem Mietwagen durchs Land gemacht. Zunächst fand ich das gar nicht gut, weil alle meine Schulfreunde in den Ferien mit ihren Eltern nach Frankreich, Spanien oder Italien ans Meer fuhren. Nur ich durfte nicht ans Meer, sondern musste mit meinen Eltern nach Finnland in die Einöde reisen. *lacht* Aber als wir schließlich da waren, war ich sofort verzaubert: Die unberührte Natur, die Stille, die Landschaft mit ihren dichten Wäldern und tiefblauen Seen hat mich einfach beeindruckt. Und auch die finnische Sprache gefiel mir auf Anhieb.
Mit 17 Jahren bin ich als Austauschschülerin für ein Jahr in Turku gewesen. Zu der Zeit wusste ich schon: Irgendwann komme ich zurück, um für eine Weile in Finnland zu arbeiten. Doch zunächst klappte das nicht. Nach meiner Rückkehr aus Finnland habe ich eine Lehre als Reisekauffrau gemacht und später an der Höheren Fachschule für Tourismus in Luzern studiert. Als dann vor ein paar Jahren meine langjährige Beziehung auseinander ging, habe ich den Augenblick genutzt und bin für sechs Monate nach Lappland gegangen, um dort als Touristenguide zu arbeiten. In meiner dritten Wintersaison lernte ich meinen jetzigen Freund kennen. Das war für mich im Grunde die Motivation, den Schritt endlich zu wagen, und so bin ich nach Ylläsjärvi in Finnisch-Lappland ausgewandert.
Finntastic:
Und konntest Du zu der Zeit bereits Finnisch sprechen?
Anja:
Ich habe bereits in meinem Austauschjahr in Turku Finnisch gelernt. Nach dem Jahr konnte ich mich schon gut auf Finnisch verständigen. Leider habe ich nach meiner Rückkehr in die Schweiz rund 15 Jahre kein Finnisch mehr gesprochen und somit viel verlernt. Seit meiner ersten Wintersaison in Lappland habe ich damit begonnen meine Finnischkenntnisse aufzufrischen. Ganz so flüssig wie nach dem Austauschjahr sind sie jedoch noch nicht wieder. Seit Mitte Mai besuche ich deshalb einen fünfmonatigen Online-Intensiv-Finnischkurs. Wir haben fünf Tage die Woche fünf Stunden pro Tag Unterricht und ich hoffe sehr, dass alles schnell zurückkommt.
Finntastic:
Und wie einfach ist es im Tourismus in Finnland Fuß zu fassen?
Anja:
Das kommt immer auf die Region an. In Süd- oder Westfinnland, wo es viele größere Städte gibt, und wenn du viele Sprachen neben Finnisch sprichst, wie Deutsch, Englisch oder Französisch, ist es deutlich einfacher einen langfristigen Job in der Tourismusbranche zu bekommen. Aber hier in Lappland ist der Tourismus eben wirklich sehr saisonal und die Region Ylläs ist derzeit stark auf den Winter ausgerichtet. Natürlich kannst du hier auch im Sommer ganz viel machen, zum Beispiel wandern, Radtouren unternehmen, mit dem Kajak oder Kanu fahren und auch fischen. Aber vielen Touristen und Reisebüros ist unsere Region meist nur für den Wintersport und damit für den Winterurlaub bekannt. Es gibt zwar Pläne, auch den Sommertourismus anzukurbeln, aber das braucht wohl noch ein wenig Zeit.
Finntastic:
Hast Du ein paar gute Tipps zum Auswandern nach Finnland? Wo bekommt man Informationen? Wie bereitet man sich am besten vor?
Anja:
Ich denke die Sprache ist wirklich wichtig. Wie wichtig, hängt ein wenig von der Region ab, in der du leben willst. Es ist aber definitiv einfacher, wenn du schon ein wenig die Sprache sprichst. Die Leute kommen dir auch mehr entgegen. Finnen freuen sich, wenn du versuchst Finnisch zu sprechen, auch wenn es nicht ganz korrekt ist. Du solltest dich allerdings im Vorfeld gut über das Land, das Sozialversicherungssystem und wichtige Versicherungen informieren. Und was ganz wichtig ist: Du musst dich nach drei Monaten Aufenthalt beim örtlichen Immigrationsamt anmelden, ähnlich wie bei uns beim Einwohnermeldeamt.
Und erst, wenn Du eine finnische Steuer-Identifikationsnummer (TIN), auch bekannt als finnische Sozialversicherungsnummer, bekommen hast, kannst Du übrigens ein Bankkonto eröffnen. Alle wichtigen Informationen erhältst du immer ganz unkompliziert auf Nachfrage, meist auf Englisch oder sogar auf Deutsch. Entscheidend ist, dass du dir alle Informationen selbst einholst! Niemand trägt dir die Infos hinterher! Finnen schätzen Eigeninitiative.
Ich habe mich damals im Vorfeld zum Beispiel auf www.suomi.fi informiert, aber auch über meine Freunde und Kollegen. Es ist von Vorteil, wenn du bereits Finnen vor Ort kennst. Deshalb kann ich nur jedem raten, der nach Finnland auswandern möchte: Such dir zunächst einen Saisonjob in dem Ort, in dem du künftig leben möchtet. So kannst du dich ganz in Ruhe mit der finnischen Kultur vertraut machen und es ist auch viel einfacher Kontakte und Freundschaften zu knüpfen.
Finntastic:
Und was haben Deine Eltern gesagt, als Du ihnen erzählt hast, dass du auswandern willst?
Anja:
Ich habe es ihnen vor einem Jahr erzählt, als sie mich in der Wintersaison in Ylläsjärvi besucht haben. Ich glaube für sie war es keine große Überraschung. Mein Vater meinte mit einem Lächeln zu mir: „Ja, das habe ich mir schon gedacht!“ *lacht* Ich glaube für sie ist es auch deshalb in Ordnung, weil sie selbst schon so viele Ferien in Finnland verbracht haben, das Land in und auswendig kennen und auch lieben. Und sie wissen, wo und wie ich lebe, dass ich hier gut vernetzt bin und durch meinen Freund auch Familienanschluss habe. Ich denke, das beruhigt sie ein wenig.
Finntastic:
Und seit wann gibt es Deinen Blog Finnomenal?
Anja:
Schon in meinem Austauschjahr 2003 in Finnland habe ich eine Webseite über meine Erlebnisse verfasst. Damals war das eine Art Tagebuch, um einerseits meine Familie und Freunde an meinem Alltag im Ausland teilhaben zu lassen und zum anderen auch, um schöne Momente für mich selbst als Erinnerung festzuhalten. Meine Gastfamilie in Turku hatte allerdings damals kein Internet daheim, was echt ungewöhnlich für finnische Verhältnisse ist. *lacht*
Deshalb habe ich damals alles per Hand aufgeschrieben und per Brief zusammen mit einer SD-Karte in die Schweiz geschickt. Mein Vater hat die Texte auf Computer abgetippt, die Fotos bearbeitet und alles auf meine Webseite hochgeladen. Das war also mein erster eigener Blog. *lacht* Meinen jetzigen Blog „Finnomenal“ habe ich dann während meiner ersten Wintersaison 2016 in Lappland gestartet.
Finntastic:
Wie ich gesehen habe, schreibst Du neben Deinem Blog auch gerne Kurzgeschichten. Zwei davon hast Du auch auf Deine Webseite hochgeladen. Eine handelt über Weihnachten und die andere heißt „Mila und der Polarfuchs“. Sind das beides Kindergeschichten?
Anja:
Ja genau. Es sind beides Kindergeschichten. „Mila und der Polarfuchs“ ist eine Geschichte, die ich für meine Nichte Mila geschrieben habe. Ich wollte ihr mit der Geschichte die Legende des Nordlichts und des Feuerfuchses näherbringen und so habe ich ihr diese Geschichte vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt. Eine liebe Freundin von mir, die übrigens im Muumin Maailmaa in Naantali arbeitet, hat die Zeichnungen dazu gestaltet.
Finntastic:
Das heißt du bist auch ein großer Muminfan? Welcher Mumin-Charakter gefällt Dir am besten?
Anja:
Auf jeden Fall! Den ersten Kontakt zu den Geschichten hatte ich allerdings erst in meiner ersten Wintersaison 2016 in Lappland. Von den Charakteren mag ich besonders „Pikku Myy“. Ich glaube, sie ist ein wenig wie ich. Sie ist neugierig und entdeckt gerne die Welt. Und ich rege mich hin und wieder auch wie sie über kleine Sachen total schnell auf. Aber ich bin genauso wie Pikku Myy nicht nachtragend. Ihre Frisur und Kleidung ist auch so schön. Und sie setzt eben gerne ihre Ideen durch. Dass sie so viel finnisches Sisu, also Durchsetzungsstärke in sich vereint, das mag ich auch sehr an dem Mumincharakter.
Finntastic:
Auf Deinem Blog habe ich auch das folgende schöne Zitat von Erich Kästner entdeckt: „Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.“ Was gefällt Dir an dem Zitat?
Anja:
Mir persönlich ist es wichtig, mir meine kindliche Kreativität und verrückten Ideen zu bewahren und auch einfach einmal etwas zu versuchen, ohne dabei zu denken, was alles schief gehen könnte. Als Kind war ich begeisterungsfähig, neugierig und sehr phantasievoll. Solche Eigenschaften helfen einem auch als Erwachsener.
Finntastic:
Und was fasziniert Dich an der finnischen Kultur?
Anja:
Auf alle Fälle die Gelassenheit! Es gibt kaum entspanntere Leute, als hier in Finnland! *lächelt* Als ich 2016 das erste Mal für eine Wintersaison nach Finnland kam und im Snow Village in Lainio in der Gemeinde Kittilä gearbeitet habe, war das für mich alles eine neue Welt. Ich musste mich erst an die finnische Mentalität gewöhnen, die übrigens auch in der Arbeitswelt ein wenig anders ist, als in der Schweiz. Alles läuft in Finnland ein bisschen langsamer. Natürlich wird die Arbeit erledigt, die Frage ist nur wann? *lacht*
Was mich auch fasziniert: Die Freundschaften mit Finnen sind total unkompliziert. Finnen nehmen es dir nicht übel, wenn du dich nicht regelmäßig meldest. Bei einem Treffen fühlt es sich oft gar nicht so an, als dass man sich länger nicht gesehen hat. Von Freunden aus der Schweiz bin ich es hingegen gewohnt, dass ich die Freundschaft pflegen muss. Sobald ich mich ein halbes Jahr nicht melde, fühle ich mich fast ein bisschen schuldig. *lacht* In Finnland hingegen ist das ganz normal. Wenn man sich nicht meldet, heißt das eben: Es ist alles gut.
Und was ich auch toll finde: wenn ein Finne dich fragt: „Wie geht es Dir?“ Dann kannst du auch einfach mal ehrlich sagen, wenn es dir nicht so gut geht. Du musst niemanden etwas vorspielen. Die Finnen sind einfach total offen, aber eben auch direkt. Das mag ich an der Kultur. Und dann gefällt mir natürlich diese starke Naturverbundenheit.
Finntastic:
Ist die enge Naturverbundenheit in Finnland eigentlich vergleichbar mit der Schweiz?
Anja:
Eine gute Frage! Auch wir Schweizer lieben die Natur und wandern gerne. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es ein Schweizer zwei Wochen im Mökki, also im finnischen Sommerhäuschen, mitten in der Wildnis, ohne Strom und fließend Wasser aushalten würde. *lacht* Ich glaube, das wäre vielen Schweizern auf die Dauer zu langweilig. Wir sind da vermutlich ein wenig ähnlich gepolt, wie ihr Deutschen. Wir sind auch ein wenig rastlos und können schlecht entspannen und einfach mal gar nichts tun.
Und ich empfinde den Umgang mit der Natur in Finnland auch grundsätzlich etwas anders, als in der Schweiz. Mein Chef von der Rentierfarm sagt immer: „Die Natur nimmt sich, was in die Natur gehört und deshalb sollten wir auch nur das aus der Natur nehmen, was wir wirklich brauchen.“ Diese ganze Philosophie, die ist in Finnland viel stärker ausgeprägt, als in der Schweiz.
Finntastic:
Apropo Naturverbundenheit: Du liebst auch Elche. Hast Du in Deiner Zeit in Lappland bereits einen Elch in freier Wildbahn entdeckt?
Anja:
Ja, nicht nur einen! Ich habe mir immer gewünscht Elche in freier Natur zu sehen. Mein Freund hat einen Jagdschein und hat mich letztes Jahr im Herbst mit auf die Elch-Jagd genommen. Die Jagd ist übrigens in Finnland etwas ganz Natürliches. Jeder zweite Finne hier oben in Finnisch-Lappland hat einen Jagdschein. Wir sind damals also im Jagdgebiet herum gefahren und haben am selben Tag rund fünf Elche gesehen. Einen von ihnen haben wir dann jedoch geschossen.
Das war für mich zunächst auch eine recht unangenehme Erfahrung. Ich musste mich an diese Tradition, also die Elchjagd, auch erst gewöhnen. Zunächst hatte ich immer diese Bilder vom geschossenen Elch vor Augen. Der Anblick war wirklich nicht schön. Aber um ganz ehrlich zu sein, Elchfleisch ist neben Rentierfleisch das beste Fleisch, das du essen kannst! Du schmeckst einfach den Unterschied, weil die Tiere eben ganz frei in der Natur leben. Das Fleisch hat eine viel bessere Qualität, als das aus dem Supermarkt. Elchfleisch ist tatsächlich noch viel zarter, als Rentierfleisch. Und es hat auch viel weniger Fett. Ich glaube, deshalb verträgt man es auch besser.
Für die Finnen ist es ein Privileg, dass sie auf die Jagd gehen dürfen und sich somit von der Natur ernähren können. Es gibt hier wirklich viele Leute, die wenn sie Fleisch essen, nur Elch- oder Rentierfleisch essen. Und ich glaube auch wenn die Jagd auf den ersten Blick ein wenig brutal wirkt, so hat sie doch wiederum ganz viel mit Respekt vor der Natur zu tun. Das gefällt mir an den Finnen.
Finntastic:
Kann jeder in Lappland einen Jagdschein machen? Und ist der vergleichbar mit dem deutschen oder schweizer Jagdrecht?
Anja:
Ich würde sagen ja. Es gibt einen Jagdschein für die Kleintierjagd, mit dem du Vögel, Hasen und zum Beispiel Füchse jagen darfst. Für größere Tiere wie Hirsche und Elche musst Du eine zusätzliche Prüfung absolvieren. Und für den Bär gibt es noch einmal eine zusätzliche Prüfung. Jeder Jagdverein bzw. jede Jagdgruppe hat ihr eigenes Jagdrevier. Bevor die Jagd jedes Jahr beginnt, wird festgelegt, wie viele Elche jede Jagdgruppe erlegen darf. Jeder erschossene Elch muss dem Jagdleiter gemeldet werden und der meldet es dann der zuständigen Behörde. Du musst dich dann allerdings auch als Jagdgruppe darum kümmern, dass der Elch ausgenommen, zerlegt und das Fleisch verwertet wird. Vielfach wird das Fleisch in der Jagdgruppe untereinander aufgeteilt, weil es eben so viel ist.
Ausgenommen von der Jagd sind übrigens Rentiere: Die darfst du auch mit einem Jagdschein keinesfalls jagen. Denn jedes Rentier hat einen Besitzer. Meist ist das ein samischer Rentierzüchter. Es gibt aber auch finnische Rentierzüchter, denn in Finnland ist es nicht wie zum Beispiel in Schweden oder Norwegen Gesetz, dass nur die Samen Rentiere halten dürfen.
Finntastic:
Du selbst bist also auch ein großer Rentierfan. Hast Du die Fellnasen schon live erlebt?
Anja:
Na klar! Ich habe letzten Winter auf einer Rentierfarm in Lappland gearbeitet. Das war ein echt einmaliges Erlebnis! Die Rentiere leben fast das ganze Jahr über frei in der Wildnis. Zweimal im Jahr werden sie zusammengetrieben. Einmal im Frühjahr, um die Kälber zu zählen und zu markieren und dann wieder im Herbst zur Rentierscheidung. Bei der Kälbermarkierung war ich bereits dabei. Jedes Rentier bekommt da eine spezielle Ohrmarke, die ins Ohr geritzt wird. Mit dieser Marke weiß man genau, wem das Rentier gehört.
Im Herbst ist dann Paarungszeit und die Rentiere sind in großen Gruppen unterwegs. Zu der Zeit werden sie ein zweites Mal zusammengetrieben, um die Arbeitsrentiere für die Wintersaison auszusondern und auf die Farm zurückzuholen und um die Rentiere für die Schlachtung auszuwählen. Die Rentiere werden meist direkt auf dem Platz geschlachtet, ausgenommen und verarbeitet. So bleibt ihnen ein quälender Transport zur Schlachtung erspart. Die Rentierscheidung im Herbst ist daher schon eine recht blutige Angelegenheit. Die Markierung der Jungtiere finde ich daher schöner.
Finntastic:
Durch den Klimawandel müssen die Rentiere im Winter zugefüttert werden. Welches Futter erhalten sie und was fressen sie sonst besonders gerne?
Anja:
Besonders gerne fressen Rentiere Jäkälä, also die Rentierflechte. Sie wächst auf dem Waldboden und sieht ein wenig aus wie Moos. Sie mögen aber auch Flechten, die an den Bäumen wachsen und knabbern diese gerne von Ästen. Im Winter erhalten die Rentiere zusätzlich Kraftfutter in Form von Pellets, aber auch Rentierflechte, weil diese für eine gesunde Darmflora der Tiere wichtig ist. Was ich schon ziemlich skurril finde: Die Rentierflechte wird oft rund dreihundert bis vierhundert Kilometer unterhalb des Polarkreises eingesammelt, und dann nach Lappland gebracht, um damit hier die Rentiere zu füttern, weil diese den Sommer über in Lappland alles leer fressen.
Finntastic:
Du interessierst Dich auch für die Kultur der Samen und warst mittlerweile bereits in ganz Lappland unterwegs, kennst also neben dem finnischen auch den norwegischen Teil Sápmis, wie Kautokeino oder Karasjok. Was fasziniert dich an der samischen Kultur?
Anja:
Mich fasziniert vor allem die Naturverbundenheit und, dass die Samen noch heute sehr im Einklang mit und von der Natur leben. Interessant sind auch ihre alten über Jahrhunderte hinweg überlieferten Traditionen und der samische Gesang, der Joik. Leider ist über die Zeit viel Wissen über die Kultur verloren gegangen, unter anderem, weil die Samen in ganz Sápmi, also in Norwegen, Schweden, Finnland aber auch auf der Kola-Halbinsel in Russland lange Zeit unterdrückt und zum christlichen Glauben gezwungen wurden. Sie durften ihre Kultur, ihre Sprache und auch den Gesang nicht offiziell ausüben. Und auch wenn Inari in Finnland sowas wie das samische Zentrum in Finnland ist, bei uns in der Region Ylläs haben die Samen scheinbar noch nicht wieder so ein Nationalbewusstsein erlangt, wie zum Beispiel in Norwegen, in Kautokeino oder Karasjok.
Das merkst du, wie ich finde, ganz deutlich, wenn du die Grenze zu Norwegen überschreitest und zum Beispiel nach Kautokeino oder auch nach Karasjok kommst. Die Leute sind da ganz offen stolz auf ihre Kultur und auch darauf, dass sie Samen sind. Ich glaube, sie leben ihre Kultur und ihre Traditionen viel intensiver aus, als in Finnisch-Lappland.
Als ich auf der Rentierfarm in Ylläs gearbeitet habe, habe ich gemerkt, man will nicht so viel über die samische Kultur reden. Es ist ein bisschen ein Tabuthema. Und das finde ich sehr schade. Woran das liegt habe ich noch nicht ganz in Erfahrung gebracht. Allerdings gibt es in der Region Ylläs ganz viele Orte, die den Samen heilig sind. Aber niemand spricht wirklich darüber. Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass sie ihre heiligen Stätten gerne für sich behalten möchten und eben auch ihre Kultur lieber im Stillen ausüben. Es gibt nämlich auch in der samischen Kultur sehr große regionale Unterschiede, übrigens auch in der samischen Sprache.
Finntastic:
Verständlich. Und was für heilige Orte sind das zum Beispiel?
Anja:
Das sind zum Beispiel heilige Seen, aber auch Orte mit Opfersteinen. So ähnlich wie der Ukonkivi, also der Stein des Ukko, eine heilige Insel mitten im Inarijärvi, die du als Tourist vom Boot aus besichtigen kannst. In der Region Ylläs werden diese Opfersteine tatsächlich auch noch regelmäßig besucht. Das habe ich erlebt, als ich mit Freunden und Bekannten zu diesen Orten gefahren bin. Dort werden zum Beispiel Fotos von Verstorbenen platziert, die oft mit samischen Symbolen verziert werden. Es werden aber auch Rentiergeweihe hingelegt. Eine sehr interessante Tradition, die in Ylläs jedoch wie gesagt eher im Stillen stattfindet.
Finntastic:
Und wie ist die Situation der Samen derzeit in Finnisch-Lappland? In Norwegen gab es ja immer wieder Schwierigkeiten für die Samen. Zum Beispiel hat der samische Rentierzüchter Jovsset Ante Sara, der Bruder der norwegischen Künstlerin Máret Ánne Sara damals gegen den Staat Norwegen geklagt, weil er einen Großteil seiner Herde zwangskeulen sollte, weil die Rentiere angeblich zu viel Weidefläche in Anspruch nehmen.
Anja:
Solche Konflikte gibt es leider auch in Finnland immer wieder, zum Beispiel in der Gemeinde Enontekiö-Hetta. Dort werden regelmäßig Diskussionen darüber geführt, wie viele Rentiere überhaupt gehalten werden sollten, weil die Schäden an der Natur und in den Wäldern durch die Überweidung einfach so groß sind. Der Rentierzuchtverband gibt daher genau vor, wie viele Rentiere jede Farm halten darf. Allerdings betrifft das Problem in Finnland nicht nur die Samen, sondern generell alle Rentierfarmen und deren Rentierherden.
Finntastic:
Stimmt es, dass jeder Autofahrer in Lappland eine Art Unfallversicherung für einen Rentierschaden abschließen muss, um im Ernstfall den Rentierbesitzer für seinen Verlust zu entschädigen?
Anja:
Ja, immer wenn du ein Auto kaufst, musst du eine Versicherung abschließen und die deckt immer auch Wildunfälle zum Beispiel mit Elchen oder Rentieren ab. Wenn Du einen Wildunfall hattest, rufst du die 112 an und die schicken jemanden vorbei, der das Ohr vom Rentier mitnimmt, oder quasi das Rentier anhand der Ohrmarke identifiziert. Dann wird der Besitzer benachrichtigt und der erhält dann eine Entschädigung. Wenn es ein Fleischrentier trifft, dann ist die Entschädigung meiner Meinung nach angemessen, aber wenn es ein Arbeitsrentier trifft, ist das nicht der Fall. Denn Arbeitsrentiere sind viel mehr wert, weil der Besitzer oft Jahre in das Training investiert und das Tier an den Menschen gewöhnt hat.
Finntastic:
In Deinem Wandertagebuch hast Du auch über einen ganz besonderen Ort berichtet und zwar über die ehemalige Wohnstätte von Erakko Heikkinen am Pikku-Taapalompolo See? Was hat es damit auf sich?
Anja:
Ja genau! Das ist eine ganz interessante, lokale Geschichte. Erakko Heikkinen wurde 1877 geboren. Er hatte wohl keine Familie und die Schnauze voll vom Dorfleben und hat sich als Einsiedler in den Wald zurückgezogen. Er hat sich mitten in der Wildnis Erdhäuser gebaut und wirklich sein ganzes Leben dort verbracht. Er lebte vom Fischfang, von der Jagd, von Sachen die er selbst anbaute, backte selber Brot und sammelte Beeren im Wald. Er stellte auch viele Dinge selbst her, zum Beispiel Schuhe aus Birkenrinde. Er hat Körbe geflochten, Messer und Löffel geschnitzt und auch Ruder für Boote und Skier hergestellt, um sie im Dorf gegen Lebensmittel wie Salz, Zucker, Mehl, Kartoffeln und anderen Dinge einzutauschen, die er zum Leben benötigte.
Mich fasziniert dieser Erakko, weil er eben wie auch die Samen komplett von und im Einklang mit der Natur gelebt hat und im Winter bei rund Minus 30 Grad in seinem Erdhaus der Kälte getrotzt hat. Ohne fließend Wasser, ohne Strom, wie wir es heute gewohnt sind. Er war da draußen, übrigens während des zweiten Weltkrieges, ganz auf sich alleine gestellt. Vom Krieg hat er hingegen gar nicht so viel mitbekommen, weil er so isoliert gelebt hat und damit hat damit ein sehr einfaches, aber eben auch glückliches Leben geführt.
Das „Erakko Heikkisen Kämppä“ ist kein Museum, aber eine Art Gedenkstätte. Alle Gebäude sind noch gut erhalten, auch der Zaun drumherum steht noch und man kann auch die Feuerstelle am See und all seine Werkzeuge besichtigen. Ein Schild erzählt ein wenig über seine Geschichte. Erakko Heikkinen wurde übrigens nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, also um 1945 von Rentierfarmern tot in seiner Behausung aufgefunden. Er ist somit rund 68 Jahre alt geworden, was für die damalige Zeit und seine Lebensumstände schon ein echt stolzes Alter war.
Finntastic:
Ein weiteres Abenteuer war Dein Besuch auf der Wolfshundefarm, in der Nähe von Ranua. Vielleicht magst Du uns darüber ein wenig erzählen?
Anja:
Ohja gerne, das war echt interessant! Ich habe das Susimaa vor einiger Zeit durch Zufall entdeckt, weil ich ein großer Hundefan bin, aber auch Wölfe sehr mag. Vor zwei Jahren hatte ich die Möglichkeit Harald und Sarah einen ganzen Tag lang zu besuchen. Die bauen sich in der Nähe von Ranua gerade eine Ökofarm auf, mit dem Ziel künftig ganz autark zu sein. Ein sehr nachhaltiges Konzept. Sie haben allerdings nicht nur Wolfshunde, sondern auch Huskys.
Es war wirklich spannend, die Unterschiede zwischen Wolfshund und Husky zu sehen, die echt enorm sind. Wolfshunde sind an den Menschen nicht so gewöhnt. Man braucht sehr viel Geduld. Deshalb darf man als Fremder auch nicht in alle Wolfshundegehege. Aber Harald und Sarah machen das wirklich super und erklären einem so viel über diese einzigartigen Tiere. Man sieht wirklich ihre Leidenschaft und dass sie das alles mit Herzblut machen.
Wolfshunde sind übrigens ein wenig größer als normale Hunde, haben sehr lange Beine und sehen wirklich ein wenig wie Wölfe aus. Auch ihr Verhalten ist ähnlich. Ich glaube mittlerweile bieten Harald und Sarah auch Schlittenfahrten mit den Wolfshunden an. Die Wolfshunde rennen nämlich auch so gerne wie die Huskys und haben sogar noch eine bessere Ausdauer und sind viel besser an die arktischen Bedingungen angepasst.
Allerdings ist die Haltung der Tiere sehr kompliziert. Man braucht eine Genehmigung und muss gewisse Auflagen erfüllen. Auch politisch ist die Haltung in ganz Finnland noch nicht so gern gesehen. Die Zucht ist daher sehr eingeschränkt und leider gibt es auch immer wieder Konflikte.
Finntastic:
Und noch eine Frage zum Abschluss: Wie hat Dich die Coronakrise überrascht? Und wie geht es für Dich in der nächsten Zeit weiter?
Anja:
Eigentlich war es mein Plan, diesen Sommer mein eigenes Touristik-Unternehmen aufzubauen Aber durch Corona verzögert sich das jetzt um ungefähr ein Jahr. Ich möchte mich nämlich als privater Tourguide selbstständig machen und kleine Gruppen auf vier- bis fünfstündige Exkursionen in die Umgebung rund um Ylläs mitnehmen. Zu ganz speziellen Orten in der Region, über die wir bereits gesprochen haben, wie das „Erakko Heikkisen Kämppä“. Ich habe auch die Möglichkeit kleine Gruppen zum Beispiel zu den Rentiermarkierungen bzw. zur Rentierscheidung mitzunehmen und ich möchte Elchbeobachtungen anbieten.
Und dann war die Region Ylläs vor über einhundert Jahren sehr bekannt für die Teerproduktion. Das ist aber leider total in Vergessenheit geraten. Es wurde sehr viel terva, also Teer produziert, indem man Torf verbrannte. Viele dieser Tervahauta, also alte Verbrennungsöfen, sind noch heute überall im Wald versteckt. Ich möchte die Menschen deshalb auf eine kleine Zeitreise mitnehmen, ihnen diese Geschichte und Kultur der Region näherbringen. Abgerundet werden sollen all meine Exkursionen immer mit einem gemütlichen Feuer in einer Original-Kota, wo ich traditionellen Kaffee in der Kaffeekanne über dem Feuer koche, Rentier- bzw. Elchwürste grille und „Letut“ bzw. „Lätyt“, den traditionellen, lappländischen Pfannkuchen zubereite.
Finntastic:
Vielen Dank für das spannende Interview und dass Du uns aus Deinem Leben in Lappland erzählt hast. Du hast mich echt neugierig auf Ylläs und die Umgebung gemacht.
Anja:
Das freut mich! Dir auch Danke, dass ich ein wenig über Lappland und meine Region Ylläs plaudern konnte. Wenn Du im nächsten Jahr vor Ort bist, sag mir Bescheid, dann zeige ich Dir ein wenig die Gegend und wir können zum Beispiel auch die Rentierfarm, das Susimaa oder das „Erakko Heikkisen Kämppä“ gemeinsam besuchen.
Über Anja Degiampietro
Anja Degiampietro ist in Wohlen, einer kleinen Stadt in der Nähe von Zürich, in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Heute lebt sie bei ihrem Freund in Ylläsjärvi, in Finnisch-Lappland. Bereits als Kind verbrachte sie ihre Sommerferien regelmäßig mit den Eltern in Finnland. Mit 17 Jahren ging sie für ein Austauschjahr nach Turku und begann die finnische Sprache zu lernen. Bereits damals entwickelte sich der Wunsch, später einmal nach Finnland auszuwandern.
Doch zunächst absolvierte Anja Degiampietro in der Schweiz eine Ausbildung als Reisekauffrau und arbeitete im Anschluss in diversen Reisebüros. Später studierte sie Tourismus in Luzern und leitete nach ihrem Studium vier Jahre lang die Tourismusinformation in Sarnen, bevor es sie 2016 zum ersten Mal in der Wintersaison zum Arbeiten nach Lappland zog. Mittlerweile hat sie bereits die vierte Wintersaison in Lappland hinter sich, u.a. als Tour- und Safari-Guide für das Snow Village in Lainio/Kittilä, als Gästebetreuerin für ein schweizer Unternehmen in Äkäslompolo und im letzten Winter als Touristenguide auf einer Rentierfarm.
Die finnische Kultur, die wunderschöne Landschaft mit ihren unberührten Wäldern und Seen haben es Anja Degiampietro angetan. Auf ihrem Blog „Finnomenal“, berichtet die Auswanderin seit ihrer ersten Wintersaison 2016 von ihrem Alltag in Lappland und ihren Finnlandabenteuern. Immer mit dabei sind ihre beiden Maskottchen, der Elch „ElCHior“, der sogar ein eigenes Wandertagebuch führt, und Pikku Myy, mit denen Anja bereits zahlreiche Abenteuer erlebt hat. Neben dem Wandertagebuch schreibt Anja Degiampietro auch selbst Geschichten. Eine ihrer Kindergeschichten handelt von der Legende des Nordlichts und des Feuerfuchses.
Beeindruckend sind auch Anja Degiampietros Landschaftsaufnahmen und Tierfotos sowie ihre Nordlichtaufnahmen. Im Frühjahr 2020 schaffte sie es mit einem ihrer Fotos bereits ins Halbfinale des “Suomen luonnon kuva“, des Fotowettbewerbs für das „Finnische Naturfoto des Jahres“. Mehr Informationen über Anja und ihre Lapplandabenteuer gibt es auf ihrer www.finnomenal.fi.
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